Damit die Geschichte sich nicht wiederholt

Die Opfer des Nationalsozialismus  sollen niemals vergessen werden - Das neue Buchener Gedenkprojekt soll über viele Jahre wachsen.

Von Tanja Radan

Stadtarchivar Tobias-Jan Kohler stellt in Eberstadt das Gedenkkonzept vor. (Foto: Tanja Radan)Eberstadt wurde am 10. November 1938 zum Schauplatz eines menschenverachtenden Verbrechens: NSDAP-Ortsgruppenleiter Adolf Heinrich Frey erschoss aus nächster Nähe seine 81-jährige Nachbarin Susanna Stern – weil sie jüdischen Glaubens war. Der Täter wurde nie bestraft.

Es ist der Stadt Buchen ein großes Anliegen, dass sie und die anderen Opfer des Nationalsozialismus niemals vergessen werden. Um die Opfer im kollektiven Gedächtnis der Stadt zu verankern, wurde der Erinnerungskultur, die in Buchen seit Jahrzehnten wächst, mit dem Gedenkprojekt „buchen-gedenkt.de“ ein weiteres wertvolles Kapitel hinzugefügt, das am Todestag von Susanna Stern der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Und die Resonanz war riesengroß: In der ehemaligen Synagoge in Eberstadt war kein Platz leer geblieben.

„Wir müssen der Lebensgeschichte der Opfer gedenken, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Nie war dieses Gedenken wichtiger als in diesen Zeiten“, unterstrich Bürgermeister Roland Burger. „Wir haben keine Schuld an dem, was mit Hitlers Machtergreifung begann, aber als nachgewachsene Generation stellen wir uns der Verantwortung und erinnern an das, was damals geschehen ist. Damit wir und kommende Generationen wachsam bleiben, gerade in diesen Zeiten. Das Gedenken kann nie abgeschlossen sein, auch wenn es in bestimmten Kreisen salonfähig geworden zu sein scheint, Gegenteiliges zu behaupten.“

Das Gedenkprojekt, das vom Gemeinderat der Stadt initiiert wurde, wurde von Stadtarchivar Tobias-Jan Kohler konzipiert. Die grafische Umsetzung lag in der Hand von Matthias Grimm.

Das Projekt, das von Stadtarchivar Kohler vorgestellt wurde, will das Leben und Sterben der Opfer erforschen, davon erzählen und sie sichtbar machen. „Wir möchten Empathie und Interesse wecken“, betonte der Stadtarchivar.

Das Gedenkprojekt hat sowohl eine analoge als auch eine digitale Seite: Am Lebensmittelpunkt des jeweiligen Opfers wird eine Gedenktafel aus Cortenstahl angebracht, die mit der Zeit eine Rostpatina (kleines Foto) entwickelt. „Der Rostprozess symbolisiert das Vergessen“, so Kohler. Und derjenige, der sich mit der Tafel befasst, verhindert das Vergessen. Auf der Tafel ist neben dem Namen der Person ein QR-Code eingraviert, den man mit dem Mobiltelefon scannen kann und so auf die Webseite gelangt, wo u. a. ein kurzer Video-Clip über das Opfer sowie dessen Lebensgeschichte abgerufen werden können. Zwei Lebensgeschichten sind bereits online: die von Susanna Stern, die von Schülerinnen der Helene-Weber-Schule gestaltet wurde, sowie die Geschichte von Marie Wolf, der Tante des kürzlich verstorbenen Albert Lester, der die Geschichte seiner in Auschwitz ermordeten Tante in einem bewegenden Videoclip erzählt. Ein großer Dank ging an Walter Jaegle, der den Kontakt zu Lester hergestellt hatte.

Das Projekt ist bewusst „unfertig“ und so angelegt, dass es über viele Jahre wachsen kann und soll. „Es ist geplant, zwei bis drei Opfergeschichten pro Jahr zu erzählen“, erläuterte Kohler. So wird das Gedenken aufrechterhalten. Um das zu realisieren, braucht die Stadt Buchen natürlich Mitmacher. Alle sind dazu willkommen, einen Videoclip zu erstellen, Text einzusprechen, die Lebensgeschichte eines Opfers zu erforschen oder sich im „analogen Raum“ an einer Gedenkveranstaltung bzw. anderen Projekten zu beteiligen. Jeder kann sich im Rahmen seiner Möglichkeiten einbringen. Wer Interesse hat, kann mit der Stadt Buchen Kontakt aufnehmen. Insbesondere junge Menschen sind dazu eingeladen, sich zu beteiligen.

Die Beteiligten bei der Vorstellung des Gedenkporojektes. Von link: Landrat Dr. Achim Brötel, Lehrer Patrick Held, Stadtarchivar Tobias-Jan Kohler, Ortsvorsteherin Esther Vasko und Bürgermeister Roland Burger mit den Schülerinnen der Helene-Weber-Schule. (Foto: Tanja Radan)Schülerinnen der Helene-Weber-Schule haben dies bereits getan und den Video-Clip über Susanna Stern gestaltet, den sie in Eberstadt gemeinsam mit ihrem Lehrer Patrick Held vorstellten. Am Video über Susanna Stern wirkten Ronja Schittenhelm, Marie Brohm, Nele Stancl, Emma Noe, Sarah Rohde, Jolina Unrein und Chantal Merz mit.

Zum Projekt gehört auch eine Datenbank, in der bislang 94 Opfer des NS-Regimes hinterlegt sind. Die meisten davon – 69 Personen – waren Menschen jüdischen Glaubens. Die weiteren Opfer wurden im Zuge der sogenannten „Euthanasie“ ermordet, waren Zwangsarbeiter, Sinti oder politisch Verfolgte. „Auch diese Datenbank ist nicht abgeschlossen“, verdeutlichte Kohler. Es kann durchaus sein, dass es Opfer gibt, deren Schicksal noch unbekannt ist.

Landrat Dr. Achim Brötel lobte das überaus gelungene Projekt als ein „mehrdimensionales Gedenken auf verschiedenen Ebenen“, das eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft schlage. Und dies sei heute wichtiger denn je: „Bei der Sonntagsfrage kommt eine in mehreren Bundesländern vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei auf Zustimmungswerte von 17 bis 18 Prozent. Fast jeder fünfte Wähler tendiert also offen dahin“, mahnte Brötel. Angesichts dieses Rechtsrucks und einem Erstarken des Antisemitismus stellte er die Frage, die sich heute viele stellen: „Was haben wir eigentlich aus unserer Geschichte gelernt?“

Für die Vergangenheit seien wir nicht verantwortlich, für den Umgang mit ihr jedoch allemal. „Aus unserer besonderen historischen Verantwortung folgt nämlich eine besondere Verpflichtung. Die Verpflichtung, nicht zuzulassen, dass das, was die Nazis erreichen wollten, am Ende womöglich doch noch eintritt. Nämlich andere sogar über ihre physische Existenz hinaus auszulöschen oder, um es bildlich zu sagen, ihre Existenz im Buch des Lebens einfach auszuradieren.“ Das Gedenkprojekt der Stadt könne, so der Landrat, den Opfern zumindest einen Teil ihrer Würde zurückgeben.

Der Beitrag wurde zuerst in der Rhein-Neckar-Zeitung Ausgabe Nr. 263 vom 13. November 2024 veröffentlicht.